Wie man einen Bestseller wie Bittere Pillen schreibt

Als der Verlag Kiepenheuer und Witsch Anfang der 80-er Jahre einer Wiener Autorengruppe vorschlug, ein Buch über Nutzen und Risiken von Arzneimitteln zu schreiben, erntete er auf Anhieb großes Gähnen. Arzneimittel? Wen interessierte das schon? Sicher nicht Autoren im Alter von Sex and Drugs and Rock’n Roll. Aber weil der Verlag nicht locker ließ und es den Autoren nach dem Medizinbestseller »Gesunde Geschäfte – die Praktiken der Pharmaindustrie« gerade an Ideen für ein spannendes Buchprojekt mangelte, stimmten sie halbherzig zu und unterschrieben einen Vertrag.

Intern stand das Projekt unter dem Arbeitstitel: Viel Arbeit gibt’s und wenig Brot. Außerdem waren alle überzeugt davon, dass keine Lorbeeren winkten – eine Bittere Pille also für die Autoren.

Was als langweilige Routinearbeit begann, entpuppte sich bald als eine Art Mondlandungsprojekt. Kaum war ein gravierendes Problem gelöst, tauchten schon fünf neue auf.

Damals so wie heute gab in deutschen Apotheken etwa 50.000 verschiedene Arzneimittel. Sollten die alle nach Nutzen und Risiken bewertet werden? Unmöglich, denn das wäre ein Buch mit 10.000 Seiten geworden. Also verfielen die Autoren auf die Idee, nur die häufig verwendeten Medikamente in das Buch aufzunehmen. Sie suchten erfolglos nach entsprechenden Daten. Weder das Bundesgesundheitsamt noch die Krankenkassen besaßen derartige Informationen.

Es war schließlich die Pharmaindustrie selbst, die ihnen, ungewollt natürlich, aus der Patsche half. Die Pharmaindustrie verfügt – streng vertraulich, versteht sich – über sehr detaillierte Daten zum Verbrauch ihrer Produkte. Monat für Monat wird genau ermittelt, wie viele Packungen von jedem Medikament in Deutschland (und in jedem anderen Land der Welt) verwendet werden, wie viel die Firma damit umsetzt, welche Diagnosen Ärzte stellen und welche Rezepte sie verschreiben. Das alles kann man bei einem internationalen Konzern namens Institute for Medical Statistics (IMS) für viel Geld kaufen. Aber nur, wenn man eine Pharmafirma ist. Außenstehende haben da keinen Zugang, Gott behüte!

Es gehört jedoch zum Job von Journalisten, sich auch solche vertraulichen Informationen zu besorgen, und eines Tages lagen die notwendigen Daten vor. Es wurden also 2.300 Medikamente ausgewählt, die wissenschaftlich zu bewerten waren.

Als weitere große Hürde entpuppte sich das Konzept einer engen Zusammenarbeit von Journalisten und Medizinern. Denn in der deutschsprachigen Wissenschaft und vor allem in der Medizin galt es Anfang der 80er Jahre noch als anrüchig, sich in die Untiefen der Populärwissenschaft zu begeben.

Es bedurfte großer Überredungskunst, Mediziner und Pharmakologen zur Mitarbeit zu bewegen. Schließlich waren vier Wissenschaftler bereit, ihr Expertenwissen zur Verfügung zu stellen und das Projekt zu unterstützen: Der Pharmakologe Jörg Remien von der Universität München, der Apotheker Gerd Glaeske aus Hamburg, der Pharmakologe Hans Winkler von der Universität Innsbruck und der Medizinstatistiker und Epidemiologe Eberhard Greiser aus Bremen. Im Lauf des Projekts stießen weitere Mediziner hinzu.

Als nicht ganz einfach – das ist die wienerische Umschreibung für »sehr schwierig« – erwies sich auch der Zugang zu wissenschaftlichen Unterlagen für die Bewertung von Nutzen und Risiken der Arzneimittel. Anfang der 80er Jahre war der Großteil der medizinischen Bibliotheken im deutschsprachigen Raum in einem erbärmlichen Zustand. Es gab noch kein Internet, keine Suchmaschinen und keine elektronischen Datenbanken.

Die Autoren waren gezwungen, Bibliotheken und Buchhandlungen in Amsterdam, London und New York aufzusuchen. Texte wurden noch mit Schreibmaschinen getippt und Korrekturen und Ergänzungen mit Schere und Klebstoff angebracht.

Nach einem viermonatigen Gewaltakt in einer Wiener Wohnung, in der rund um die Uhr in Tag- und Nachtschichten gearbeitet wurde, knallten die Sektkorken über einem fertigen Manuskript von 850 Seiten. Jedenfalls dachten die Autoren, dass es fertig sei. Hans Weiss reiste höchstpersönlich nach Köln und übergab es dem damaligen Verlagschef Reinhold Neven DuMont.

Der reichte die heiße Kartoffel sofort an seine Juristen weiter – sie waren die ersten Leser des Buches.

Ihre schnörkellose Empfehlung: Abzuraten. Auf keinen Fall veröffentlichen!

Sie waren der Meinung, das juristische Risiko sei zu hoch: Da fast 60 Prozent aller Medikamente als »Abzuraten« oder »Wenig zweckmäßig« eingestuft wurden, mussten sowohl der Verlag als auch die Autoren mit dem totalen Ruin rechnen. In drastischen Worten schilderten die Juristen, was es bedeutet, wenn 100 oder mehr Pharmafirmen klagen, mit einem Streitwert von jeweils 100.000 Mark und mehr. Mit diesem Buch hatten wir uns Gegner ausgesucht, die über nahezu unbegrenzte Geldmittel verfügen.

Aber der damalige Verlagschef schlug den Rat seiner Juristen in den Wind. Er hatte einen Ruf zu verteidigen – immerhin hatten Heinrich Böll und Günter Wallraff bei Kiepenheuer & Witsch publiziert – und erklärte trotzig: »Wir machen das trotzdem!«

Das Buch wurde in einen knallblauen Umschlag verpackt, mit dem von Hans Weiss erfundenen Titel »Bittere Pillen« versehen und im Herbst 1983 an alle deutschsprachigen Buchhandlungen geliefert.

Es wurde einer der größten und langfristigsten Bucherfolge im deutschen Sprachraum, mit inzwischen mehr als 3 Millionen verkauften Exemplaren. »Die Bibel zur Verhinderung von Arzneimittelmissbrauch – ein Meisterwerk!«, schrieb der Spiegel. Seit dem Erscheinen der Erstausgabe wird das Buch alle drei Jahre neu überarbeitet und herausgebracht.

Die Juristen behielten nur teilweise Recht. Sofort nach Erscheinen des Buches drohten mehr als drei Dutzend Firmen mit einer Klage, bei einem Streitwert von insgesamt mehr als 5 Millionen Euro. Unverblümt forderte man Textänderungen: Die Empfehlungen »Abzuraten« sollten in »Therapeutisch zweckmäßig« verändert werden.

Der Verlag ließ sich aber nicht einschüchtern. Eine der Firmen machte ihre Drohungen wahr und zog vor Gericht. Autoren und Experten konnten jedoch gute Gründe für die Abwertung vorlegen und die Richter überzeugen. Es wurde ein Sieg für »Bittere Pillen«.

Im Lauf der vergangenen 25 Jahre haben rund 70 Pharmakonzerne versucht, das Buch mit juristischen Drohungen klein zu kriegen – ohne Erfolg. Immer noch wird jedes Jahr ein- bis zweimal mit einem Gerichtsverfahren gedroht. Verlag und Autoren versprechen den Lesern, dass sie auch in Zukunft ihre unabhängige, kritische Haltung bewahren und der Pharmaindustrie Jahr für Jahr neue Anlässe für juristische Schritte liefern werden.

»Bittere Pillen« entfaltete bis heute eine enorme gesundheitspolitische Wirkung. Nicht nur die Pharmaindustrie, auch die »Götter in Weiß«, die bis dahin als unantastbar gegolten hatten, verloren ein paar Federn. Im Kielwasser von »Bittere Pillen« erschienen in den folgenden Jahren zahlreiche medizinkritische Bücher. Der »mündige Patient« ist inzwischen zum Schlagwort geworden.

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